Selim Kırılmaz (Ludwig-Maximilians-Universität München, Institut für Ethnologie)

Musik, Migration und Verleugnen: Erinnerung an die Musik des alten Mardin und Mihail Kirilmaz

Die Musiker Cercis Xeco, Corc Kırılmaz, and Yusuf Neceg. Das Foto wurde von der Kirilmazfamilie zur Verfügung gestellt.

Dieses Promotions-Projekt konzentriert sich im Kontext der Touristifizierung der Altstadt von Mardin in den 2000er Jahren auf die Erinnerung an die Migration von Christen aus Mardin/Türkei, die in großem Umfang zwischen den 1940er und 1990er Jahren stattfand.

In den späten 1990er und frühen 2000er Jahren erlebte die Türkei die Geburt einer neoliberalen Kulturpolitik und eines neuen Diskurses über „Minderheiten“. In diesem Zusammenhang wurde die Stadt Mardin zunehmend als multikulturelles Tourismus-Zentrum wahrgenommen. Im Jahr 2000 wurde ein Protokoll zur Aufnahme der Stadt in die Liste des UNESCO-Weltkulturerbes unterzeichnet.

Während dieser Zeit wurden die assyrische Gemeinschaft und die Stadt Mardin durch Fernsehserien, Dokumentarfilme und Tourismus „multikulturell“ in den türkischen Medien sichtbar. Diese multikulturelle Sichtbarkeit verschwieg jedoch die Geschichte, die dazu geführt hat, dass heute Mardin fast ausschließlich von Muslimen bewohnt wird.

In diesem Zusammenhang wurde mein Großonkel Mihail Kırılmaz (1919-1997), ein assyrischer Sänger, dessen Lieder seit den 1940er-Jahren aufgenommen worden waren, zu einer der Ikonen der Nostalgie des „alten“ Mardin. Die Lieder von Mihail Kırılmaz wurden von lokalen Musikern „wiederentdeckt“; Anfang der 2000er Jahre erschienen Online-Artikel über ihn. Das Forschungsprojekt untersucht ausgehend von der Arbeit und dem Leben von Mihail Kırılmaz, die Lieder, Musiker und ihre Geschichten des „alten“ Mardins. Das Adjektiv „alt“ bezieht sich nicht nur auf die Zeit, in der Nicht-Muslime eine bedeutende Präsenz in der Stadt hatten, sondern auch auf die historische Besiedlung des Stadtzentrums von Mardin im Gegensatz zu der in den 2000er Jahren neu errichteten, verstärkten Betonsiedlung von Mardin, die unterhalb des Stadtzentrums entstanden ist.

Ich konzentriere mich auf die mündliche Überlieferung der Christen Mardins in den Jahren 1940-1990, einer Zeit, in der einerseits viele Musikaufnahmen von Musikern unterschiedlicher ethnischer und religiöser Herkunft in Mardin gemacht wurden und sich andererseits die allermeisten Christen gezwungen fühlten, die Region zu verlassen. Gleichzeitig betrachte ich die verschwiegene Migration von Christen aus Mardin und die Auswirkungen der heutigen multikultureller Diskurse über das „alte“ Mardin und seine Assyrer. Zu diesem Zweck führte ich Interviews mit Familienmitgliedern der Brüder George und Mihail Kırılmaz, mit Musikern und Musikexperten in Mardin, älteren Menschen der Stadt sowie Gemeindevertretern.

Methodologisch möchte ich konzeptualisieren, wie die Lieder und ihre Texte sowie die Erzählungen, in denen die Mardiner von der untersuchten Zeit berichten, die affektiven Dimensionen der Erinnerung an eine verleugnete Vergangenheit prägen. Da ich selbst ein „Insider“-Forscher bin, hat diese Forschung darüber hinaus das Potential, über die generationsübergreifende Weitergabe von Erinnerungen und Emotionen zu reflektieren.

Indem ich die Musik selbst analysiere und dies mit ausführlichen Interviews kombiniere, möchte ich die Rolle der Musik innerhalb sozialer Beziehungen untersuchen und dabei ihr Potential als Gedächtnisstütze bei der Durchführung mündlicher historischer Forschung auf methodischer Ebene demonstrieren.

Schließlich hoffe ich, zu den bislang sehr begrenzten ethnographischen Studien zum kollektiven Gedächtnis der Assyrer in der Türkei beizutragen.