Yeliz Çavuş (Ohio State University)
Die Entstehung eines modernen Geschichtsbewusstseins in der spätosmanischen und frührepublikanischen
Geschichtsschreibung (1840–1930)

Im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert begann bei den Osmanen, wie in vielen anderen Bereichen, auch in der Geschichtsschreibung eine „moderne“ Institutionalisierung. In diesem Zeitraum begannen osmanische Historiker, die Vergangenheit mittels neuer Modelle zu untersuchen und zu diskutieren. Die Imagination der Vergangenheit und der Gegenwart mithilfe eines modernen Geschichtsbewusstseins bedeutete nun, vergleichende Ansätze, alternative Periodisierungsverfahren, die Vorstellung vom Schreiben einer Nationalgeschichte und so auch den nationalistischen Diskurs in historische Debatten zu integrieren. Darüber hinaus begannen Historiker in dieser Zeit, im Gegensatz zu ihren Vorläufern in der frühen Neuzeit, neue Quellen und Methoden zu nutzen, die eine progressive und positivistische Auslegung der Geschichte stützten. Mit der Gründung akademischer und halbakademischer Vereinigungen wie der Türk Derneği oder der Tarih-i Osmani Encümeni hielten moderne historische Debatten Einzug in die von diesen Vereinigungen herausgegebenen Zeitschriften. Das Forschungsprojekt eröffnet die Diskussion darüber, inwiefern diese institutionelle Infrastruktur und die Veränderungen im intellektuellen Leben in der spätosmanischen Zeit die Geschichtsschreibung der frührepublikanischen Periode beeinflusst haben. Dabei rücken historiographische Probleme in den Fokus, die den Historikern beider Epochen gemeinsam sind. Çavuş geht den Fragen nach, durch welche neuen Akteure, Dynamiken und Diskurse die historiographischen Praktiken der Epoche geformt wurden und wie sich der Übergang von der imperialen zur nationalstaatlichen Geschichtsschreibung vollzogen hat. Die Materialgrundlage der Untersuchung sind von Historikern der Epoche verfasste Monographien, Zeitschriften- und Zeitungsaufsätze, offizielle Register akademischer Geschichtsvereine und Archivunterlagen, wie etwa der Schriftverkehr zu Veränderungen im staatlichen Geschichtsunterricht. Auf diese Weise wird darüber diskutiert werden, wie die Historiker der Epoche untereinander, mit dem Staat und mit der Gesellschaft kommuniziert haben.