Audrey Wozniak, M.A. (Harvard University)

Eine Disziplin für die Nation: Chöre der türkischen klassischen Musik in Geschichte und Praxis

Cumhurbaşkanlığı Klasik Türk Müziği Korosu (Chor für Klassische Türkische Musik des Präsidialamtes) Koncert, Istanbul, November 2021. Foto: Audrey Wozniak

Mein Forschungsprojekt beschäftigt sich mit einem außergewöhnlichen, aber oft übersehenen Phänomen der türkischen klassischen Musik, das Hand in Hand mit der Gründung der Republik Türkei durch Mustafa Kemal Atatürk im Jahre 1923 ging: Die Entstehung von zahlreichen Chören neuen Typs in der gesamten Republik, teils im Staatsdienst teils in Amateurhand, was auch einen fundamentalen Wandel der musikalischen Gattungen und der Aufführungspraxis nach sich zog. Zentrale These in Wozniaks Forschungsprojekt ist, dass scheinbar außermusikalische soziale und politische Geschehnisse während des Niedergangs des Osmanischen Reichs und des Entstehens der Republik Türkei in den neu aufkommenden Chören der türkischen klassischen Musik ihren Niederschlag fanden. Dadurch können diese als wertvolle soziokulturelle Microkosmen gelten, in denen Ängste und Auseinandersetzungen über (persönliche und nationale) Identität in Proben- und Aufführungspraxis ausgelebt werden. Mit ethnographischer und archivbasierter Methode begibt sich das Forschungsvorhaben sowohl auf die Spuren des historischen Phänomens des Chors als Ensemblekonstellation in der türkischen klassischen Musik während des letzten Jahrhunderts als auch seiner mannigfachen aktuellen Verkörperungen in städtischen Kontexten der Türkei sowie der Diaspora. Mein Projekt ist das erste, das Chöre der türkischen klassischen Musik als Schauplätze in den Blick nimmt, in denen Auseinandersetzungen um »Türkentum« und die Besorgnis über politische, kulturelle und soziale Werte nach wie vor ausagiert werden. Die Arbeit setzt sich zum Ziel, dass die Dokumentation zur kulturellen und politischen Bedeutung von Chören der türkischen klassischen Musik einen nachhaltigen nationalen und internationalen Einfluss erlangt, indem sie aufzeigt, wie eine besondere Verkörperung des türkischen Kulturerbes Bedeutung für die Staatsbürger:innen der Türkei und Türk:innen auf der ganzen Welt gewinnen konnte.