Selbstzeugnisse, Übersetzung, Familie: auf Spurensuche eines venezianisch-osmanischen Dragomanen

Autor: Stefan Hanß

18. August 2023

 

Narrating the Dragoman’s Self in the Veneto-Ottoman Balkans, c.1550–1650 erschien in der von Richard Wittmann und Christoph Herzog herausgegebenen Routledge-Buchreihe Life Narratives of the Ottoman Realm: Invidivual and Empire in the Near East im Frühjahr diesen Jahres, genauer gesagt: am 18. April 2023. Sechs Jahre zuvor erlaubte es mir ein großzügiges Stipendium des Deutschen Studienzentrums in Venedig selbst durch Südosteuropa zu reisen, auf den Spuren eines Dragomanen (Übersetzers) namens Genesino Salvago. Genau 405 Jahre vor der Publikation meiner Monographie, am 18. April 1618, befand sich dieser auf dem Weg von Bela Palanka nach Niš im heutigen Serbien. Genesino war nervös: auf der Hut vor etwaigen Übergriffen der Heiducken legte er eine beachtliche Entfernung zurück. Tagsüber machte er Halt in einer Karawanserei, wo er die Pferde und Zugtiere fütterte und erstaunt feststellte, dass sogar Wein ausgeschenkt wurde. All dies schrieb er in einem bis dato unbekannten Selbstzeugnis: dem handschriftlichen Bericht seiner Reise von Istanbul nach Split und weiter nach Venedig. Der autobiografische Text liefert detaillierte Einsichten in das Leben im osmanischen Südosteuropa und wirft zugleich spannende Fragen zum Leben Genesinos und anderer, als Übersetzer tätigen Mitglieder dieser Familie auf, sowie deren strategischen Gebrauchs von Selbstzeugnissen.

Einband der Neuerscheinung.

Zum Zeitpunkt von Genesinos Reise hatten seine Vorfahren bereits seit über einem Jahrhundert als Dragomanen für die venezianischen Botschafter in Istanbul gearbeitet – trotz oder gerade aufgrund ihres Status als osmanische Untertanen. Über Generationen hatten sie an der Aushandlung osmanischer-venezianischer Diplomatie entscheidenden Anteil. Sie übersetzten Forderungen, überbrachten Nachrichten, verhandelten auf Geheiß Venedigs und reisten im Auftrag der Botschafter, um venezianische Machtansprüche im Mittelmeerraum durchzusetzen. Ihr Geschick im Umgang mit Wörtern und Menschen bestimmte über Krieg, Frieden und den wirtschaftlichen Wohlstand der Republik Venedig.

Ende des 16. Jahrhunderts änderte sich das Schicksal von Genesinos Familie jedoch dramatisch. 1594 wurde Mateca Salvago, das Familienoberhaupt und Genesinos Vater, auf Geheimbefehl Venedigs vergiftet. Es waren Zweifel an der Loyalität des Kulturmittlers aufgekommen: Mateca solle sich bereichert haben und als osmanischer Spion tätig gewesen sein. Wenige Jahrzehnte später wurde dann auch Giovanni Antonio Grillo, Matecas Enkel, von osmanischen Obrigkeiten öffentlich hingerichtet, da er als venezianischer Agent Nachrichten abgefangen hatte. Die Generation zwischen Mateca und Giovanni Antonio—die Geschwister Genesino, Giuliano, Giovanni Battista, Benetto und Ameda Salvago—steht im Mittelpunkt der vorliegenden Monographie, die anhand umfangreicher Archivrecherchen erstmals eine Mikrogeschichte solcher in venezianischen Diensten tätigen Sprach- und Kulturmittler vorlegt.

Titelseite von Genesino Salvagos Selbstzeugnis. The National Archives Kew, PRO 30/25/18, fasc. 13. © Stefan Hanß.

Für diese Generation an Salvago-Übersetzern war das Verfassen von Selbstzeugnissen von zentraler Bedeutung, um Lebensentwürfe und Karriereambitionen zwischen Venedig und dem Osmanischen Reich zu verhandeln. Als venezianische Amtsträger den Salvago zunehmend mit Skepsis begegneten und sie vermehrt auf Reisen schickten, fernab vom Machtzentrum in Istanbul, begannen diese Übersetzer ausführlich über ihr Leben und ihre Tätigkeiten zu berichten. Detailgenau erforscht das Buch, wie die Salvago in Aleppo, Algier, Belgrad, Durrës, Gallipoli, Istanbul, Sarajevo, Split, Thessaloniki und der Lagunenstadt venezianische Politik sowie ihre eigenen Lebensentwürfe durchzusetzen versuchten. Immer wieder reisten sie durch Südosteuropa, und so rekonstruiert die vorliegende Monographie nicht allein diese Reisen, sondern auch die Bedeutung der Balkanhalbinsel für die Geschichte des Osmanischen Reiches und gesamtmediterranen Mächtegefüges in der Frühen Neuzeit.

Das Buch ediert erstmals den bisher unbekannten Reisebericht, in dem Genesino seine Reise von Istanbul über Split nach Venedig im Jahr 1618 narrativiert. Für die Forschung ist dieser Text ein Glücksfall, insofern das Selbstzeugnis detaillierte Einblicke in das Alltagsleben in Südosteuropa gewährt. Das Selbstzeugnis hatte Genesino niemand anderem als Francesco Contarini gewidmet, der nur fünf Jahre später zum Dogen ernannt werden sollte. Die politischen Netzwerke der Salvago reichten folglich bis ins politische Zentrum Venedigs, aber eben auch tief in den Sultanshof hinein. Die dem Buch zugrundeliegenden internationalen Archivforschungen ermöglichen es, diesen italienischen Text als osmanisches Selbstzeugnis lesbar und somit auch die venezianischen Lebensentwürfe mancher Sultansuntertanen greifbar zu machen. Was hieß es, als Osmane in venezianischen Diensten – überdies in so sensiblen Bereichen – zu arbeiten, und wie ließ sich dies anhand autobiographischen Schreibens legitimieren und kohärent narrativieren? Die Monographie untersucht die Rolle solcher transimperialer Akteure und ihrer Selbstzeugnisse in der Vermittlung venezianischer Machtansprüche im Osmanischen Reich sowie den Einfluss der Tätigkeiten von Salvago-Übersetzern auf deren Lebensumstände.

Francesco Contarini, Widmungsempfänger von Genesino Salvagos Reisebericht und späterer venezianischer Doge (1623/24). Marmorskulptur eines unbekannten Künstlers, 17. Jahrhundert, 76.2 cm. The Metropolitan Museum of Art, New York, 32.100.156.

Übersetzung wird in dieser Studie historisch kontextualisiert, das heißt in konkreten sozialen und kulturellen Zusammenhängen erforscht, und so zeigt sich dadurch, dass Übersetzungspraktiken einen großen Einfluss darauf hatten, wie die Salvago lebten, agierten und über sich selbst und andere schrieben. Übersetzungspraktiken waren von autobiographischer Bedeutung; sie beeinflussten, welche Geschichten solche Sprachexperten wie zu erzählen gedachten. Zudem wird erforscht, wie sehr diese Kulturmittler in venezianische Spionagetätigkeiten in Dalmatien, Ragusa, Belgrad und Sarajevo involviert waren; und inwiefern ihre Aktivitäten als diplomatische Dolmetscher nicht allein die politischen Geschicke Venedigs und des Osmanischen Reiches beeinflussten, sondern zugleich auch in den Gebieten der deutsch- und spanischsprachigen Habsburger, in Ragusa und Neapel Widerhall fanden.

Vier quellenreiche Kapitel erschließen eine faszinierende, gesamtmediterrane Mikrogeschichte dieser frühneuzeitlichen Familie. Kapitel 1 rekonstruiert die Familiengeschichte der Salvago. In Anlehnung an Natalia Ginzburgs Lessico famigliare wird untersucht, wie der Sprachgebrauch dieser über Generationen hinweg tätigen Übersetzer eine Familieneinheit – und so auch das Schreiben über sich selbst in autobiographischen Texten – konstituierte.

Kapitel 2 folgt Genesinos Reise durch Südosteuropa und erforscht die Zusammenhänge von Übersetzungspraktiken, Mobilität und Raum in dessen Selbstzeugnis. Abhandlungen und Wörterbücher des 16. und 17. Jahrhunderts definierten Übersetzung als sprachliche und räumliche Tätigkeit. Übersetzen und übersetzen hingen folglich im zeitgenössischen Verständnis eng zusammen, und Schriftzeugnisse belegen, dass auch Dragomanen Übersetzung als einen Weg begriffen, den es Schritt für Schritt zu begehen galt. Genesinos Reisebeschreibung kann daher als Versuch interpretiert werden, seine eigene Expertise in sprachlicher und räumlicher Mobilität zu narrativieren. Als in venezianischen Diensten stehender Sultansuntertan musste Genesino seine kulturelle Mobilität strategisch erzählen, um keine Zweifel an seiner Loyalität gegenüber Venedig aufkommen zu lassen. So schrieb er über Straßen, Märkte, Brücken, Karawansereien und Proviantversorgung im osmanischen Südosteuropa sowie über Balkanlandschaften, um einen Erzählraum zu schaffen, der es dem Osmanen erlaubte, sich als diplomatische Person Venedigs zu thematisieren.

Auch die berühmte Mehmed-Paša-Sokolović-Brücke in Višegrad, Bosnien und Herzegowina, wird von Genesino Salvago erwähnt. © Stefan Hanß, 2017.

Kapitel 3 verankert Genesinos Selbstzeugnis und Reise durch Südosteuropa in ihren gesamtmediterranen diplomatischen, politischen und ökonomischen Zusammenhängen. Genesinos Reisetätigkeiten fanden vor dem Hintergrund eskalierender Kriegshandlungen, Piraterie, Spionage und einer einschneidenden venezianisch-osmanischen Handelskrise statt. Es wird dargelegt, inwiefern Genesinos Reise mit politischen Ansprüchen bosnischer Händler, militärischen Auseinandersetzungen Venedigs mit Neapel und Ragusa sowie diplomatischen Verhandlungen in Madrid zusammenhing, und inwieweit Genesino und andere Familienangehörige als Übersetzer und Spione tätig waren.

Kapitel 4 situiert schließlich die Selbstzeugnisse der Salvago im sich wandelnden sozialen Kontext des venezianischen Botschafterhaushaltes in Istanbul um 1600. Mit zunehmender Skepsis gegenüber osmanischen Übersetzern setzte Venedig vermehrt auf eigene Untertanen aus venezianischen Adriakolonien. Diese machten den Salvago die über Generationen hinweg vererbten diplomatischen Ränge streitig – und gefährdeten so auch den Lebensunterhalt und die Zukunft der Familie. In diesem Zusammenhang verfassten die Salvago immer mehr autobiographische Schriften wie etwa Reiseberichte, Bittschriften, Traktate, Berichte oder Widmungsschriften, um ihre eigenen Verdienste im venezianischen Herrschaftsapparat sichtbar zu machen, und darüber Belohnungen und Beförderungen einzufordern. Dieses Kapitel nimmt auf zentrale Konzepte der Translation Studies Bezug, um zu rekonstruieren, wie die Salvago durch Selbstzeugnisse die Chancen und Hürden ihre Karrieren zu verhandeln versuchten. Ihr Verständnis von Übersetzung beeinflusste dabei wesentlich, welche Geschichten sie wie über sich selbst erzählten.

Lesen und Schreiben auf der Terrasse des Deutschen Studienzentrums in Venedig: das Buch reflektiert auch über die Forschungs- und Entstehungsumstände des Bandes. © Stefan Hanß, 2017.

Methodisch betritt diese Arbeit insofern wissenschaftliches Neuland, als dass storytelling sowohl historisch als auch historiographisch konzeptionalisiert wird. Während akademisches Schreiben Autorenpositionen weitgehend anonymisiert, verstehe ich das Schreiben dieses Buches selbst als das Verfassen eines Selbstzeugnisses; und mache dies als solches in kursiven Erzählsträngen ersichtlich, die das Buch durchweben. Diese Erzählepisoden erlauben ein weniger argumentatives und eher exploratives Schreiben, das Themen aufwirft und problematisiert, anstatt scharf umrissene Analyseergebnisse zu präsentieren: Fragen aufzuwerfen, anstatt sie sofort konzise zu beantworten. Somit werden das Forschen und das erzählerische Handwerk von HistorikerInnen, wie Marc Bloch es einst nannte, selbst in Schriftform sichtbar. Wir selbst sind Teil der Geschichten, die wir über die Vergangenheit erzählen, und die Art und Weise wie diese Narrativierung geschieht, hat einen wesentlichen Einfluss darauf, welche relationalen Beziehungen wir wie entwerfen oder übersehen. Die Erforschung der Salvago hat Jahre meines Lebens beansprucht; entsprechend ist auch diese wissenschaftliche Monographie – gewollt oder ungewollt – ein Selbstzeugnis.

An der Arbeit einer ersten (und ziemlich andersartigen) Fassung des Buches mit Blick auf die Mehmed-Paša-Sokolović-Brücke in Višegrad, Bosnien und Herzegowina. © Stefan Hanß, 2017.

Die Erzählepisoden umkreisen unterschiedliche Themen, etwa was es für mich als Forscher bedeutete, Genesinos Reisestationen knapp 400 Jahre später entlang zu reisen, um so ein multi-storied Mediterraneum zu rekonstruieren. Dabei nehme ich Bezug auf anthropologische und archäologische Studien sowie mikrohistorische, literaturtheoretische und kulturwissenschaftliche Überlegungen zu Autorenpositionen, vor allem jedoch auf die Übersetzungswissenschaften und die Arbeiten von ÜbersetzerInnen. Denn Übersetzung ist selbst eine Möglichkeit, Geschichten in unterschiedlichen Erfahrungskontexten erzählerisch wirksam zu machen, und so wirft diese Monographie auch wesentliche Fragen darüber auf, wie wir vergangene Erfahrungen in aktuelle Schriftformen über-setzen können, und wie Forschen und Schreiben selbst Relationen verhandelt.

Prof. Dr. Stefan Hanß ist Professor für die Geschichte der Frühen Neuzeit an der Universität Manchester, Großbritannien. Ab September ist er auch als Stellvertretender Direktor und Scientific Lead des John Rylands Research Institute in Manchester tätig.

Narrating the Dragoman’s Self in the Veneto-Ottoman Balkans, c. 1550–1650 (Routledge, 2023), ISBN 9780367233693, 352 Seiten, 20 Farb- & 29 Schwarz-Weiß-Abbildungen, 104.00 GBP (fester Einband), 31.19 GBP (E-Book), https://www.routledge.com/Narrating-the-Dragomans-Self-in-the-Veneto-Ottoman-Balkans-c-15501650/Hanss/p/book/9780367233693

Citation: Stefan Hanß, Selbstzeugnisse, Übersetzung, Familie: auf Spurensuche eines venezianisch-osmanischen Dragomanen, Orient-Institut Istanbul Blog, 18 August 2023, https://www.oiist.org/selbstzeugnisse-uebersetzung-familie-auf-spurensuche-eines-venezianisch-osmanischen-dragomanen

Keywords

Ottoman Empire; Istanbul; Balkans; Venice; Mediterranean; 16th-17th century; autobiographical sources; narrative strategies; diplomacy; research project; publication; OII-History & Life Narratives