Zeynep Tezer (University of Chicago)
Idiosynkratische Formen von Sozialkritik im Osmanischen Reich im 16.– 17. Jahrhundert.

Bei Gericht bietet Müfti Pir Üskübi den Klägern einen Dildo zu Streitschlichtung an (aus einem Manuskript von Ata‘i’s „Hamse“, abgedruckt in: [o.A.]: Ortaöğretim 11. Sınıf Tarih Ders Kitabı, Ankara: MEB Yayınları 2017, S. 57.)

Das Dissertationsprojekt befasst sich mit Verhaltensweisen, welche im Osmanischen Reich im späten sechzehnten und im siebzehnten Jahrhundert im gesellschaftlichen und beruflichen Umfeld als „unanständig“ empfunden wurden. Diese Verhaltensweisen sollen als alternative, idiosynkratische Formen von Sozialkritik neu kontextualisiert werden. Während die Forschung die Ermordung von Sultanen, die Janitscharenaufstände und die Celali-Aufstände zu dieser Krisenzeit oft als Beispiele von organisierter und öffentlicher politischer Initiative diskutiert, vernachlässigt sie bisher die Frage, wie diejenigen Untertanen des Reiches ihrer Unzufriedenheit Ausdruck verliehen, die sich nicht durch die Beteiligung an einer Kollektivbewegung gegen die Herrschaft wenden konnten oder wollten. Durch mikrohistorische Fallstudien über berufliches Fehlverhalten und „komisches“ Benehmen in unterschiedlichen sozialen Gruppen der vormodernen osmanischen Gesellschaft soll eine größere Bandbreite an Handlungsweisen als bisher unter dem Oberbegriff „Nonkonformismus“ behandelt werden. Damit soll ein Beitrag zur Erweiterung unserer Vorstellung von den diversen Positionen, die osmanische Untertanen beziehen konnten, geleistet werden. Dadurch soll das Projekt die vorherrschende Assoziierung des „Individuums“ mit der westlichen Moderne problematisieren und Personen nicht aus dem Blickwinkel der Verwestlichung, sondern aus der Logik der eigenen historischen Entwicklung der osmanischen Gesellschaft heraus verstehen.