Personalbogen zu dem armenischen Kriegsgefangenen Levon Ter-Grigoryant (Phon.Komm 347)

Melissa Bilal: Stimmen von armenischen Kriegsgefangenen in deutschen Lagern während des Ersten Weltkrieges

Autor: Martin Greve

16. Oktober 2020

Es muss eine eigenartige Situation gewesen sein: Mitten im Ersten Weltkrieg, gefangen von den Deutschen, in ein Lager verschleppt, irgendwo im fernen Deutschland; und dann erscheinen plötzlich diese deutschen Professoren und stellen einen Kasten mit einer Art Hörrohr vor den Männern auf. Die Professoren stellen viele Fragen und füllen eifrig ihre Zettel aus: Woher man stamme, wo man gelebt habe, welche Sprachen man spreche, und schließlich, was man denn singen könne. Dann sollen sich die Gefangenen einzeln vor den Kasten stellen und tatsächlich hineinsingen.

Systematisch besuchte die zunächst geheime Königlich-Preußische Phonogramm-Kommission damals, in den Jahren 1915–1918 die Gefangenenlager von Chemnitz, Frankfurt a. d. Oder, Kassel-Niederzwehren, Wittenberg, Stendal, Mannheim, Münster und Ohrdruf. Soldaten der russischen Armee war dort interniert, ihrer Herkunft nach aus vielen Teilen Asiens und des Kaukasus. Man sprach Russisch, Estnisch, Bulgarisch, Türkisch, Georgisch, Kalmückisch, Persisch, Kirgisisch und viele weitere Sprachen. Auch Armenier waren unter den Insassen, die auf Seiten der russischen Armee gegen die Deutschen gekämpft hatten, und nun, während gleichzeitig im Osmanischen Reich der Völkermord das armenische Leben Anatoliens vernichtete, in Deutschland festsaßen. Unter den Forschern waren der Pionier der späteren Musikethnologie, Carl Stumpf (1848–1936), der Englisch-Lehrer und Sprachforscher Wilhelm Doegen (1877–1967), verantwortlich für Sprachproben, sowie der Musikwissenschaftler Georg Schünemann (1884–1945), der sich vor allem für Aufnahmen mit Volksliedern interessierte.

Musikalische Transkription zweier armenischer Lieder aus den Aufzeichnungen der Kommission (Phon Komm. 16)

Insgesamt 1.022 Aufnahmen mit Musik und Sprachproben entstanden auf diese Weise, aufgezeichnet auf Phonograph oder Grammophon – ihre Auswertung sollte später erfolgen. 1920 jedoch wurde die Phonogrammkommission aufgelöst, und die Aufnahmen begannen einen langen Irrweg durch die Institutionen: Während vor allem die Sprachaufnahmen auf Grammophonplatten in die „Lautabteilung“ der Berliner Staatsbibliothek wanderten, wurden die Wachsrollen (die vor allem Musikaufnahmen enthielten) Teil des rasch wachsenden Berliner Phonogrammarchivs. Aus der Lautabteilung wurde das Institut für Lautforschung und dieses schließlich Teil der Humboldt Universität Berlin. Das Phonogrammarchiv dagegen kam zur Berliner Hochschule für Musik, dann ins Museum für Völkerkunde. Im Zweiten Weltkrieg wurden Teile der Sammlung in die UdSSR transportiert, später zurück nach Ost-Berlin, und 1991 kamen sie schließlich wieder ans Berliner Museum für Völkerkunde. Die begleitenden schriftlichen Aufzeichnungen waren dabei teilweise von den Aufnahmen getrennt, und auch aus technischen Gründen blieben die überaus empfindlichen Aufnahmen selbst kaum zugänglich. Erst ein dreijähriges Forschungsprojekt 2013–2016 ermöglichte ihre endgültige Konservierung und Digitalisierung.

Im Jahr 2015 begann Dr. Melissa Bilal in einem Post-Doc-Projekt am Orient-Institut Istanbul an diesen Tonaufnahmen zu arbeiten sowie an den Aufzeichnungen, die die Forscher damals in den Lagern angelegt hatten: Formulare zu persönlichen Angaben der Gefangenen, Liedertexte in armenischer Schrift, Transliterationen in lateinische Schrift, musikalische Transkriptionen sowie Korrespondenz zwischen Mitgliedern der Kommission. In langen Recherchen fand Melissa Bilal Herkunft und Geschichte der Lieder und dokumentierte die Details der Aufnahmen. Es ist eine einzigartige Sammlung, einige der ältesten erhaltenen Aufnahmen mit armenischen Volksliedern, entstanden praktisch gleichzeitig mit dem Völkermord. Eine CD mit 40 ausgewählten Aufnahmen ist nun beim Ethnologischen Museum Berlin in Kooperation mit dem Orient-Institut Istanbul erschienen. Das zweisprachige, englische und armenische Booklet enthält Informationen zu den Sängern/Erzählern, dem jeweiligen Kontext der Aufnahmen, die Liedertexte sowie Informationen zum allgemeinen historischen Hintergrund der Aufnahmen.

Die CD kann online bestellt werden unter: https://www.smb-webshop.de/museen-und-sammlungen/orte/humboldt-forum/5552/1916-1918-voice-imprints-kom-cd/dvd

Citation: Greve, Martin. “Melissa Bilal: Stimmen von armenischen Kriegsgefangenen in deutschen Lagern während des Ersten Weltkrieges,” Orient-Institut Istanbul Blog, 16 October 2020. https://www.oiist.org/melissa-bilal-stimmen-von-armenischen-kriegsgefangenen-in-deutschen-lagern-waehrend-des-ersten-weltkrieges/

Keywords

Ottoman Empire, 20st century, World War I, Berlin, sound archive, prisoners of war, Armenian folk songs, research project, historic recordings; cooperation partner, alumna, OII-Music, OII-History & Life Narratives