Erol Koymen (University of Chicago)
Musikalischer Okzidentalismus und die Infrastruktur des Besonderen: Klassische westliche Musik im türkischen Modernismus

Atatürk-Kulturzentrum am Taksim-Platz, 2017. Foto: Erol Koymen

Während der letzten Jahrzehnte waren die urbanen Zentren der Türkei, insbesondere Istanbul, Schauplatz einer sich merklich ausweitenden Szene der westlichen klassischen Musik. Es könnte scheinen, als ob dieser Zuwachs die Umsetzung des klanglichen und musikalischen Modernisierungsprojekts des kemalistischen Staats – hier „musikalischer Okzidentalismus“ genannt – darstellte. Jedoch hat der türkische Staat bei diesem Vorgang keine führende Rolle gespielt, wie wohl am dramatischsten an dem 2018 geschehenen Abriss des Atatürk-Kulturzentrums am Taksim-Platz deutlich wurde. Vielmehr ist klassische Musik in der Zivilgesellschaft aufgeblüht, wie auch in der freien Wirtschaft und in einem Netzwerk von Räumen, die das staatliche Modernisierungsprojekt an seinen imperialen und neoliberalen Rändern zusammenhalten. Beispiele hierfür sind Kirchen aus der osmanischen Zeit, Missionsschulen sowie von der Privatwirtschaft geförderte Museen und Aufführungsorte. Im vorliegenden Projekt wende ich ethnographische Methoden an, um diese Räume der westlichen klassischen Musik in ihrer infrastrukturellen Rolle zu untersuchen. Ich frage, wie diese Infrastruktur bestimmte Ausprägungen des Musiklebens, Fantasien, imaginäre Vorstellungen und Zugehörigkeiten inspirieren kann. Was sind die Grenzen des Okzidentalismus im Konnex des staatlich türkischen Modernisierungsprojektes des 20. Jahrhunderts und der Liberalisierung des späten 20. und 21. Jahrhunderts? Und schließlich, wie eröffnet das Nachdenken über Musik und Klang als Teil eines Netzwerks infrastruktureller Systeme neue Möglichkeiten, um zu reflektieren, auf welche Weise diese Systeme das urbane Sozialleben formen und von diesem geformt werden.