Matthew Ghazarian (Columbia University)
Hunger in einer Zeit der Unsicherheit: Katastrophen und ethnisch-religiöse Konflikte im osmanischen Anatolien (1839–1893)

Siegel der Kommission für Hungerhilfe des Patriarchats der Armenisch-Apostolischen Kirche

Das sozial- und wirtschaftshistorische Dissertationsprojekt von Matthew Ghazarian befasst sich mit dem Konnex von ethnisch-religiösen Konflikten und humanitären Aktivitäten sowie der Frage, wie sich beide angesichts von Hunger und Armut als Konzept und Praxis im östlichen Anatolien des neunzehnten Jahrhunderts entwickelten. Wie schufen lokale Autoritäten, staatliche Bürokraten und ausländische Missionare im Zeitraum zwischen 1839 und 1893 materielle Bedingungen und Institutionen, die die Politisierung religiöser Kategorien bewirkten? Wie koexistierten Diskurse von Gleichheit und politischer Teilhabe mit einer Politik von Trennung und Exklusion, die bis in die Gegenwart andauert – oder ermöglichten diese gar in einer Zeit, als sich das Osmanische Reich nach dem Tanzimat-Edikt von 1839 in Richtung einer religiösen Gleichstellung entwickelte? Jüngere Forschungen haben gezeigt, dass der osmanische Staat, die europäischen Mächte und protestantische Missionare dazu beitrugen, Ideen von Differenz und Zugehörigkeit zu verändern. Matthew Ghazarians Forschungsprojekt baut auf diesen Arbeiten auf und verbindet sie mit einer genauen Betrachtung der materiellen und ökologischen Bedingungen, unter denen diese sich wandelnden Ideen verbreiteten. Der Schwerpunkt liegt auf den Perioden der damaligen Hungersnöte, die von instabilen ökologischen Bedingungen und schwierigen politischen und ökonomischen Entscheidungen geprägt waren. Ghazarian vergleicht die Reaktionen auf zwei größere Hungersnöte im osmanische Anatolien, 1879–81 und 1887–88. In vielen Regionen hing die Zuteilung von Hilfe davon ab, ob die Empfänger Muslime oder Christen waren: 1880 klagten Armenier in der Grenzstadt Doğubeyazıt, dass Offizielle die Hilfslieferungen für Christen zurückhielten. Im gleichen Jahr waren es in Van muslimische Kurden, die keine Hilfe bekamen. Von den 10.000 dortigen Toten waren 98 Prozent Kurden. Das Dissertationsprojekt stellt die These auf, dass die ungleiche Hilfsgütervergabe zu einer ungleichen Verteilung der ökonomischen und emotionalen Not führte und diese entlang der Grenzen von ethnisch-religiösen Gemeinschaften zu kollektiven Traumata – oder gar kollektiver Rache – führte. Dadurch verhärteten sich die Grenzen zwischen religiösen Gruppen und es wurde die Saat für die spätere interreligiöse Gewalt gelegt.