Der Faktor Mensch

Performanz von Kultur, Religion und Körper im Iran

26. Juni 2020

Interview von Patricia Pieckenbrock mit Prof. Dr. Raoul Motika

Wie lässt sich kultur-, fach- und länderübergreifend forschen? Was bewegt Wissenschaftler und wie finden sie zusammen? „Wissen entgrenzen“ – so heißt ein groß angelegtes Forschungsvorhaben der Max Weber Stiftung. Klares Ziel des Förderprojekts ist die Erschließung innovativer Forschungsfelder in globalen Kooperationen und vernetzten Kontexten. Zahlreiche Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler befassen sich neben Europa mit den Schlüsselregionen Afrika, Naher und Mittlerer Osten sowie dem pazifischen Raum. Das vom Bundesministerium für Bildung und Forschung geförderte Projekt „Wissen entgrenzen“ startete im Frühjahr 2019 und ist zunächst auf eine Laufzeit von drei Jahren ausgelegt. Der Fokus eines Teilprojekts liegt auf den soziokulturellen Entwicklungen in der Islamischen Republik Iran. Prof. Dr. Raoul Motika, Direktor des Orient-Instituts Istanbul in der Türkei, gewährt wissenschaftliche Einblicke. 

Performanz von Kultur, Religion und Körper als Strategien der Selbstermächtigung in der Islamischen Republik Iran – so lautet der Titel Ihres umfassenden Forschungsvorhabens. Herr Motika, was darf man sich in kurzen Worten darunter vorstellen?

Wir untersuchen, wie sich Menschen unter den aktuell schwierigen Verhältnissen in Iran persönliche Gestaltungs- und Handlungsmacht verschaffen. Auf der einen Seite sind sie mit strikten Werte-Normen-Systemen und Gesetzeslagen konfrontiert, zugleich sind aber auch sie Teil der globalisierten und digitalisierten Welt. Ohne selbst reisen zu müssen, bringt ihnen bereits das Internet Lebensformen, kulturelle Ausdrucksformen sowie Möglichkeiten anderer Länder und Kulturen nahe. Bei unserer Forschung geht es nicht darum, politische Einstellungen einzelner Menschen zu erfassen oder gar, ob sie die staatliche Ordnung infrage stellen. Wir wollen vielmehr herausfinden, wie sich die Menschen in Iran selbst sehen, wie sie mit ihren Bedürfnissen umgehen und wie sie ihre Lebenspraktiken gestalten, sodass sie einen individuellen Weg zu einem modernen und lebenswerten „Ich“ finden.

Weshalb legen Sie Ihre Schwerpunkte dabei auf die Bereiche Musik, Religion und Medizin?

Die genannten Bereiche betreffen die Menschen unmittelbar in ihrem Lebensalltag, hier beginnt die Selbstermächtigung. Aufgrund der Omnipräsenz einer staatlich favorisierten Interpretation des Islams suchen Menschen beispielsweise nach individuellen religiösen Ausdrucksformen; auch das Interesse an fernöstlichen Religionen steigt. Die klassische Musik Irans, die hoch entwickelt ist und komplexen Mustern folgt, wird im Kontext von Globalisierung und Digitalisierung ganz individuell weiterentwickelt. Und dann der intime Bereich der Medizinsoziologie: Iran zählt weltweit zu den führenden Ländern in der ästhetischen Chirurgie – körperliche Optimierungen sind an der Tagesordnung.

Neue Medien, Globalisierung, Migrationsbewegungen und Urbanisierung beeinflussen nicht nur Iran, sondern Gesellschaften generell. Welche Relevanz haben kulturelle, soziale und religiöse Zusammenhänge gerade im Iran?

Seit der Revolution der Jahre 1978 bis 1980 hat sich dort ein politisch einzigartiges System etabliert, die Herrschaft der religiösen Rechtsgelehrten: Gesetzgebung, Alltagsleben, Kunst und Kultur werden nach islamischen, teilweise aber auch nationalistisch basierten Vorgaben von staatlicher Seite gestaltet oder zumindest stark beeinflusst. Um diesen repressiven Entwicklungen zu entgehen, wanderten Millionen Iraner aus, etwa nach Kalifornien, Kanada oder Deutschland. So gibt es parallele kulturelle Entwicklungen bei regem Austausch und Wissenstransfer zu Verwandten und Freunden in der alten Heimat. Iranische Sängerinnen etwa dürfen in Deutschland zwar öffentlich auftreten und Konzerte geben, in ihrem Herkunftsland ist dies jedoch nicht gestattet. Das verändert die Wahrnehmung der Menschen.

Lassen Sie uns etwas tiefer in Ihre Forschung einsteigen. Sie untersuchen den Einfluss sozialer Medien auf unterschiedliche Aspekte der klassischen iranischen Musik. Bringen neue Trends im Cyberspace tatsächlich reale Veränderungen in Iran mit sich?

Ja, das gilt aber grundsätzlich. Auch in den USA oder Europa verändern sich durch Streaming-Dienste Gestaltung und Aufbau der Musik. In der traditionellen Musikkultur Irans handelt es sich in der Regel um längere Instrumentalstücke, die teilweise von Gesang begleitet sind. Werden Musikstücke aber über Online-Dienste – vor Ort sind Instagram oder Telegram führend – verbreitet, sind sie anders aufzubereiten. Innerhalb kurzer Zeit soll der Rezipient schließlich Gefallen finden und idealerweise „dran“ bleiben. Da Bilder die Musik begleiten, sollen Künstler und Instrumente möglichst attraktiv wirken – Präsentation, Aussehen, Style und Inszenierung werden bedeutsamer. Dadurch verändern sich nicht nur das Musikrepertoire, sondern auch die Lehr- und Lernmethoden.

Es ist im Iran noch immer umständlich und langwierig, Lizenzen für Konzerte oder Alben zu bekommen. Das Hochladen von Musikstücken funktioniert dagegen einfach und schnell. Was bedeutet dies für die Künstler, was für die Rezipienten?

Durch die Digitalisierung haben die Rezipienten Zugang zu musikalischen Stilrichtungen aus der ganzen Welt und können ihre Neugier unmittelbar befriedigen. Ein Konzert brauchen sie dafür nicht. So haben auch Punk oder Heavy Metal Einzug gehalten. Solche Musikszenen wären ohne das Internet in dem engen rechtlichen und gesellschaftlichen Rahmen Irans undenkbar. Musiker greifen dann die neuen Anregungen auf und entwickeln Rhythmen, Themen oder den Instrumenteneinsatz in der iranischen Musik weiter. Es handelt sich also um eine selbstermächtigende, schöpferische Aneignung fremder Musiksprachen.

Sie widmen sich ebenfalls der Medizinsoziologie und dem weiten Feld des Human Enhancement – auch dies ein bedeutender Bereich der Selbstermächtigung in der iranischen Bevölkerung. Wie beeinflussen sich Religion und Medizin?

Kosmetische Operationen und Optimierungen des eigenen Körpers – etwa Botox-Spritzen, Nasen- und Lippenkorrekturen, Kriegsverletzungen „reparieren“, Lernfähigkeit verbessern und vieles mehr – sind in Iran sehr verbreitet. Auch ästhetische Korrekturen von Geschlechtsorganen werden durchgeführt, wobei solche Eingriffe in Kliniken stets von religiösen Autoritäten zu genehmigen sind. Unser wissenschaftliches Augenmerk liegt insbesondere auf Haartransplantationen und Epilation, was beides zunehmend von Männern in Anspruch genommen wird. Hintergrund ist die hohe Bedeutung der Barttracht in islamischen Kulturen, wie beim Propheten Mohammed bzw. von den schiitischen Imamen vorgelebt. Ein geringer Bartwuchs schmälert daher das Ansehen eines Mannes, sodass eine Barthaartransplantation häufig auch religiös motiviert ist. Die Reduzierung starker Körperbehaarung mittels Laserepilation hingegen hat zumeist ästhetischen Charakter.

Gibt es im Umgang mit medizinischen Eingriffen Unterschiede im schiitisch- und sunnitisch-islamischen Recht?

Grundsätzlich genießen Schiiten – sie sind in Iran in der Mehrheit – in islamrechtlicher Hinsicht größere Freiräume. Entscheidet sich ein Ehepaar zum Beispiel aufgrund der Unfruchtbarkeit des Mannes für eine künstliche Befruchtung, darf nach der Rechtsinterpretation eines führenden islamischen Rechtsgelehrten auf Fremdsperma zurückgegriffen werden. Sunnitischen Paaren ist dies allerdings verwehrt: Die direkte männliche Abstammungslinie zählt mehr als der Wert von Kindern in der Familie. Hier finden medizinische Möglichkeiten und Religion bislang nicht zusammen.

Sie befassen sich überdies mit zivilen Wohltätigkeitsorganisationen in Iran. Liegen bereits Erkenntnisse vor, inwieweit sie dem Einzelnen weitere Wege der Selbstermächtigung aufzeigen?

In der Tat gibt es immer mehr säkulare Wohltätigkeitsorganisationen. Sie sind häufig über private Stiftungen oder Vereine finanziert und widmen sich verschiedensten Themen: Straßenkindern, Frauen in Not, Tierschutz oder Umweltaspekten. Wissenschaftliche Ergebnisse können wir leider noch nicht präsentieren, weil unserer Expertin vom iranischen Außenministerium (noch) kein Forschungsvisum ausgestellt wurde. Der Antrag läuft weiter, wir denken aber gerade auch über andere, digitale Wege für unsere Feldforschung nach. Diese Notwendigkeit hat sich aufgrund der Corona-Pandemie noch verstärkt.

Die gesellschaftliche Relevanz verbindet Ihre sämtlichen Forschungsinitiativen. Können Sie ein paar generelle Worte zu bestehenden Rollenbildern sagen?

Mit den Veränderungen und Modernisierungen in der iranischen Gesellschaft geht ein rasanter Wandel der Rollenbilder einher. Es gibt viel mehr berufstätige Frauen als früher, sie verfügen über ein eigenes Einkommen, was sie selbstständiger macht. Gegenwärtig wird rund ein Drittel der iranischen Ehen geschieden – dieser Schritt geht häufig von den Frauen aus. Auch der Anteil von Frauen an Universitäten und Bildungseinrichtungen ist deutlich gestiegen, oft auf über 50 Prozent. Obwohl Frauen rechtlich noch immer benachteiligt sind, stärkt der Bildungszuwachs ihre Rolle. Sie erobern sich Schritt für Schritt neue Freiheiten. Manche verzichten auf den Straßen Teherans bereits auf das Kopftuch, andere kämpfen um einen Besuch im Fußballstadion, damit sie ihre männliche Lieblingsmannschaft sehen können.

Ihre Forschung lebt von der kooperativen Vernetzung der Wissenschaftler auf internationaler und fachübergreifender Ebene. Wie rekrutieren sie die Forscherteams?

Die Projektleiter für die Bereiche Medizinsoziologie, Religions- und Musikwissenschaft entwickeln jeweils Subprojekte und suchen für die dreijährige Forschungsarbeit geeignete Mitarbeiter. Unsere Wissenschaft lebt dabei von einer internationalen Mischung. Dazu gehören lokal Beschäftigte in Istanbul – deutsche, iranische, türkische und pakistanische Kollegen mit jeweils unterschiedlichen Qualifikationen und Expertisen. Außerdem wechseln wir jedes Jahr die Besetzung der Postdoktoranden-Stellen, um das Netzwerk zu vergrößern. Parallel arbeiten wir natürlich in engem Austausch mit Forscherkollegen aus Deutschland und Iran.

Worin liegen die größten Schwierigkeiten, um „Wissen entgrenzen“ zu können, wie es im Förderprojekt heißt?

Da sind vor allem die problematische außenpolitische Lage sowie die schlechten ökonomischen Bedingungen in Iran zu nennen. Dazu kommen komplexe und langwierige Entscheidungsprozesse an den Instituten und Einrichtungen. Und unter dem ökonomischen Ungleichgewicht zwischen iranischen und deutschen bzw. iranischen und türkischen Universitäten leidet die für den wissenschaftlichen Austausch so notwendige Reisetätigkeit der iranischen Kollegen. Dank unseres Standorts Istanbul können wir hier aber etwas Abhilfe schaffen, da Iraner für die Einreise in die Türkei kein Visum benötigen. So können wir Treffen und Workshops flexibler als in Deutschland gestalten; außerdem sind Reise-, Übernachtungs- und Veranstaltungskosten erheblich geringer.

Das Orient-Institut mit dem Standort Istanbul spielt also eine Art Vermittlerrolle?

Das kann man so sagen. Das Iran-Projekt „Wissen entgrenzen“ ist Teil des ganzheitlichen Anliegens und der Zielsetzung unseres Instituts. Gemeinsam mit verschiedenen Universitäten in Deutschland und auch mit unserer Partnereinrichtung, dem Orient-Institut Beirut wollen wir dauerhafte, stabile und vertrauensvolle Kooperationsnetzwerke aufbauen. Die Wissenschaftler sollen sich aufeinander verlassen und Fragestellungen in fachübergreifender Gemeinschaft bearbeiten können. Manchmal braucht man dazu einen langen Atem. Und die Einsicht, dass nicht jedes Projekt gelingen kann. Wissenschaft lebt letztlich vom Engagement und Interesse der beteiligten Menschen. Auf einer zweiwöchigen Erkundungstour im November wurden unsere Forscher bei den iranischen Kollegen stets mit offenen Armen empfangen. Damit wir Verständigungsprobleme minimieren, haben wir bei uns am Institut Persischkurse eingeführt.

Wie werden Sie nach Abschluss des Förderprojekts der Max Weber Stiftung Ihre Ergebnisse präsentieren?

Gegen Ende der Projektlaufzeit wollen wir in Istanbul und Hamburg professionelle Filmfestivals veranstalten, wobei Dokumentationen und Kurzfilme den soziokulturellen Wandel in Iran insbesondere in den Bereichen Musik, Religion und Medizin veranschaulichen. Die Forschungsfelder sollen durch pointierte Kurzvorträge im TED-Stil eingeleitet werden. Ein Live-Blog der Max Weber Stiftung wird die Festivals begleiten, sodass Interessierte alles mitverfolgen können. Aber auch jetzt sind projektbegleitend bereits Podcasts in Arbeit. Selbstverständlich nutzen wir auch die üblichen Kanäle der Verbreitung wissenschaftlicher Erkenntnisse über Publikationen. Unser Ziel ist auch, dass Menschen von unserer Forschung profitieren, beispielsweise durch den engeren Aufbau von menschlichen Beziehungen zwischen Iran, Deutschland und der Türkei. Deshalb sollen die Ergebnisse von einer möglichst breiten Öffentlichkeit wahrgenommen werden.

Raoul Motika studierte Geschichte und Kultur des Nahen Ostens, Iranistik, Politikwissenschaft und Historische Hilfswissenschaften an den Universitäten München, Izmir und Teheran. Seinen M. A. schloss er im Jahr 1992 an der Ludwig-Maximilians-Universität München ab. 1997 promovierte er an der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg mit einer Arbeit zur neueren Geschichte Iranisch-Aserbaidschans im Fach Islamwissenschaften. An der Universität Bern in der Schweiz hielt Motika von 2005 bis 2006 die Assistenzprofessur für Islamwissenschaften mit den Schwerpunkten Türkei, Osmanisches Reich, Iran sowie Gegenwartskunde. Im Anschluss folgte er einem Ruf der Universität Hamburg auf die W3-Professur für Turkologie, wo er gegenwärtig ein Projekt im Sonderforschungsbereich „Manuskriptkulturen“ durchführt und Mitglied des Exzellenzclusters „Understanding Written Artefacts“ ist. Seit Oktober 2010 ist Motika Direktor des selbstständigen Orient-Instituts Istanbul, von wo er diesen Herbst nach zehnjährigem Forschungsaufenthalt zu seiner Heimatuniversität zurückkehren wird. Seine Forschungsinteressen reichen von historischen, politischen und religiösen Entwicklungen in Deutschland über die Türkei und Iran bis hin zu Kaukasien und Zentralasien.

Dieses Interview wurde zuerst veröffentlicht am 25. Juni 2020, Max Weber Stiftung, https://wissen.hypotheses.org/2214.

Citation: Motika, Raoul. „Der Faktor Mensch. Performanz von Kultur, Religion und Körper im Iran – Interview,” Orient-Institut Istanbul Blog, 26 June 2020, https://www.oiist.org/der-faktor-mensch-performanz-von-kultur-religion-und-koerper-im-iran/

Keywords

Izmir; Ottoman Empire; Greece; Eastern Mediterranean; Islamicate world; history; 19th century; life narratives; album; publication; minorities; Greeks; OII-History & Life Narratives