Auf den Spuren eines deutsch-russischen Orienthistorikers: Wilhelm Barthold in Istanbul

Autor: Zaur Gasimov

19. Juni 2020

Als Osteuropahistoriker bot sich mir die faszinierende Möglichkeit, meine zeitgeschichtliche Forschung zur Verflechtungsgeschichte Ostmitteleuropas und des Nahen Ostens am Orient- Institut Istanbul in einer politisch und gesellschaftlich besonders spannenden Phase von 2013 bis 2019 vorantreiben zu können. Bei einem meiner Besuche an der Universität Istanbul hatte ich dabei 2017 die Gelegenheit, die Bibliothek des Turkologischen Instituts besichtigen, die kurz nach dem Ersten Weltkrieg einem verarmten russischen Turkologen, Nikolaj Katanov, abgekauft worden war. Als ich in die Regale der Katanov-Bibliothek blickte, sah ich viele Bücher auf Russisch und Deutsch, Englisch und Französisch. Petersburg und Tiflis tauchten dabei als Verlagsorte der Bücher und Dokumentensammlungen gleichberechtigt neben Jena und Wien auf.

Ich hielt meinen Vortrag, der der Anlass meines Besuchs an der Universität war, und als ich sie wieder verließ, fand ich mich nach wenigen Gehminuten im Viertel Aksaray wieder, dem Textilzentrum Istanbuls, dessen zahlreiche Geschäfte seit Jahrzehnten Kundschaft und Touristinnen und Touristen aus der ehemaligen Sowjetunion anziehen. Hier konnte man allerorts Russisch (und seit dem Ausbruch des Syrienkrieges auch Arabisch) genauso häufig hören wie Türkisch. Im Alltagsleben war es offensichtlich, wie eng die Gesellschaften der Türkei, der Ukraine, Russlands und des Kaukasus wie auch Zentralasiens miteinander verflochten sind. Wie ließe sich diese traditionelle Verflechtung treffender veranschaulichen als an einer Episode aus der langen Tradition der russisch-türkischen Beziehungen, in deren Mittelpunkt der prominente russische und sowjetische Nahost- und Islamhistoriker Wassilij Bartolʹd steht, dessen Name mir seit meinem Studium in Baku so wohlvertraut ist?

Wassilij Wladimirowitsch Bartolʹd wurde 1869 als Wilhelm Barthold in eine deutschstämmige Familie in St. Petersburg geboren. Aufgewachsen mit Deutsch als Muttersprache wurde Russisch zu seiner Bildungssprache. In seiner Heimatstadt studierte er orientalische Sprachen und avancierte rasch zu einem der weltweit führenden Experten für die Geschichte der islamischen Kultur und vor allem der Turkvölker Zentralasiens.

1925 erhielt Barthold vom türkischen Bildungsministerium eine Einladung, als Gastprofessor an das erst kürzlich gegründete Turkologische Institut der Universität Istanbul zu kommen und dort den „Universitätskurs zur Geschichte der türkischen Völker Zentralasiens“ zu unterrichten. Barthold freute sich sehr über diese Einladung, musste seine Abreise nach Istanbul allerdings zunächst um einige Monate verschieben. Im Februar 1926 beteiligte er sich am bekannten Turkologischen Kongress in Baku, wo er auch die türkische Delegation, vor allem den Delegationsleiter Mehmet Fuat Köprülü und den Ungarn Gyula Mészáros, kennenlernte. Im April traf er schließlich in Istanbul ein.

Seinen Kurs stellte er in wenigen Monaten fertig und seine Vorlesungen richteten sich ebenso an Studierende wie generell an ein interessiertes Publikum. Seine „Zwölf Vorlesungen zur Geschichte der zentralasiatischen Turkvölker“ hielt er auf Russisch. Sie wurden von dem türkischen Historiker Ragıb Hulusi Özdem und Zeki Velidi Togan, einem baschkirischen Turkologen im Exil, ins Türkische übersetzt. Beide Übersetzer hatten in den 1930er Jahren unter den türkischen Historikern Berühmtheit erlangt und auch die türkische Sprachreform entscheidend geprägt. Fragen aus dem Publikum wurden auf Türkisch gestellt und auch auf Türkisch von Barthold beantwortet. Der österreichische Orientalist Paul Wittek besuchte die Vorlesungen Bartholds und berichtete regelmäßig über sie in der deutschsprachigen Istanbuler Zeitung „Türkische Post“. Zudem begleitete er den respektierten Wissenschaftler während seiner ausgiebigen Spaziergänge entlang des Bosporus. Engen Kontakt unterhielt Barthold auch zu Fuat Köprülü, dem prominenten türkischen Historiker und Direktor des Turkologischen Instituts, sowie zu seinem „Übersetzer“ Zeki Velidi Togan.

In der Zeit zwischen Vorträgen, Vor- und Nachbereitung der Vorlesungen und Korrekturlesen besuchte Barthold leidenschaftlich gern die Istanbuler Archive und Handschriftensammlungen. In seinem 1973 veröffentlichten Bericht beschreibt Barthold die Handschriftensammlungen der Familie Köprülü(zade), die Bestände des Museums der Hagia Sophia sowie der Nuruosmaniye-, Fatih- und Süleymaniye-Moscheen. Abgesehen davon verhandelte Barthold mit seinen türkischen Kollegen über zwei Großprojekte, zum einen die (Neu-)Gründung des russischen Forschungsinstitutes in Istanbul und zum anderen über eine sowjetisch-türkische Neuauflage des bahnbrechenden „Wörterbuchs der türksprachigen Mundarten“ von Wilhelm Radloff, einem weiteren deutsch-russischen Turkologen und Linguisten.

http://ranar.spb.ru/rus/vystavki/id/814/

Das „Russische Wissenschaftliche Institut“ (Russkij naučnyj institut) sollte vermutlich an die Tradition des im Ersten Weltkrieg geschlossenen „Russischen Archäologischen Instituts“ (Russkij Archeologičeskij Institut v Konstantinopole, RAIK) in Istanbul anknüpfen. Anders als beim RAIK sollte die Forschung sich allerdings nicht auf die Byzantinistik fokussieren, sondern schwerpunktmäßig die Bereiche Turkologie und Osmanistik abdecken.

Die Tage in Istanbul waren von früh bis spät mit Terminen gefüllt: Neben Treffen und Gesprächen mit großen Forschern jener Zeit, wie etwa Zeki Velidi Togan, Paul Wittek, Fuat Köprülüzade und anderen, traten die Arbeit in den Archiven, die Erstellung von Abschriften wertvoller Handschriften und die Lehre an der Universität. Begeistert schrieb Barthold, dass er an einem Tag die Woche seinen Vortrag am Turkologischen Institut der Universität Istanbul gleich auf Russisch halten konnte, da viele Exilwissenschaftler und Auswanderer aus dem russischen Kaukasus und Zentralasien damals dort tätig waren und Russisch als gemeinsame Sprache, als lingua franca, an dieser türkischen Forschungseinrichtung im Gebrauch war.

Es gibt Tage, an denen auch das Leben in einer quirligen Stadt wie Istanbul zur Ruhe kommt. An den Feiertagen des muslimischen Opferfestes nutzte Barthold die Gelegenheit zu einem Ausflug nach Edirne, jener türkischen Stadt an der Grenze zu Bulgarien und Griechenland, die einst für 88 Jahre bis zur Eroberung Konstantinopels die Hauptstadt der Osmanen war (1365-1453). Nach dem Semesterende im Juli ging es dann in die seit 1923 neue Hauptstadt der Türkei, Ankara.

Barthold verließ die Türkei über Istanbul – so wie viele andere Russen auch –, auf dem Seeweg. Von der Metropole am Bosporus, die Barthold immer nur Konstantinopel nannte, fuhr er nach Odessa und von dort weiter mit dem Zug nach Kiew. Dort berichtete er am Orientalischen Seminar über seine Istanbuler Vorlesungen, die übrigens sehr zeitnah auf Türkisch erscheinen sollten und in den darauffolgenden Jahren auch ins Französische und Deutsche übersetzt wurden.

Fast fünf Monate hatte Barthold 1926 in Istanbul verbracht. In der ehemaligen Hauptstadt des Osmanischen Reiches drängten sich ihm Parallelen auf zur Stimmung in seiner Heimatstadt St. Petersburg, die fast gleichzeitig mit Istanbul ihren Hauptstadtstatus verlor, jedoch die architektonische Grandeur einer imperialen Metropole beibehielt. Darüber, wie auch über die Präsenz von Tausenden russischer Emigranten, die vor der Russischen Revolution geflüchtet waren und sich seit mehreren Jahren in Istanbul aufhielten, erfahren wir allerdings nichts im Bericht Bartholds, so wie er einige Jahrzehnte nach seinem Tod 1930 vom sowjetischen Verlag „Nauka“ (Wissenschaft) veröffentlicht wurde.

Bartholds Aufenthalt in Istanbul ist eine spannende Seite der russisch-türkischen Beziehungen und ein Beispiel einer Verdichtung der länderübergreifenden, wissenschaftlichen Kontakte unter Historikern und Turkologen in einem Zeitalter ohne Internet. Bis heute setzt man sich in der Türkei mit Bartholds Istanbuler Vorlesungen auseinander. Sie prägen seit Jahrzehnten den geschichtswissenschaftlichen Diskurs zur Geschichte Zentralasiens.

Nach der Besichtigung der Katanov-Bibliothek versuchte ich, den Nachmittag noch ein wenig auf den Spuren Bartholds in Istanbul zu verbringen. Von der Universität Istanbul und dem lebhaften Viertel Aksaray fährt die Straßenbahn bis nach Karaköy, wo es bis heute mehrere russische Kirchen gibt. Ihre Blütezeit erstreckte sich auf die Zeit, als Barthold am Bosporus weilte. Von Karaköy stieg ich in eine der ältesten Untergrundbahnen der Welt, in die „Tünel“ genannte Standseilbahn,  und einige Minuten später befand ich mich an einem Ende der Prachtstraße İstiklal Caddesi, die zu Bartholds Zeiten im Volksmund immer nur die „Grand(e) Rue de Pera“ genannt wurde. Gleich am Tünel-Platz sah man das Narmanlı Han, ein Prunkgebäude, in dem sich die russische Botschaft bis ins 19. Jahrhundert hinein befanden. Hundert Meter von Narmanlı Han entfernt sieht man das heutige Konsulat der Russischen Föderation. Auf demselben Grundstück und in demselben Gebäude arbeiteten sowjetische Diplomaten schon 1926. Vom russischen Konsulat bis zum Orient-Institut sind es dann kaum mehr 15 Gehminuten: Ich bin einen Umweg gegangen und auf einer Seitenstraße der İstiklal Caddesi stehengeblieben. An der Wand hing ein Schild mit der Auskunft auf Englisch und Türkisch darüber, dass in diesem Gebäude einst das Russische Archäologische Institut untergebracht war…

Der Weltbürger und Polyglott Wilhelm Barthold verkörperte die russisch-deutsche Wissenschaftstradition wie auch die länderübergreifenden turkologischen Vernetzungen in ganz besonderer Weise. Und es gibt kaum einen besseren Ort, um diese facettenreiche Verflechtung vermessen zu können, als Istanbul.

Zaur Gasimov forscht im Rahmen einer Kooperationsstelle der Max Weber Stiftung an der Abteilung für Osteuropäische Geschichte der Universität Bonn zur Verflechtungsgeschichte Russlands, der Türkei und Irans. Der Osteuropahistoriker war von 2013 bis 2019 wissenschaftlicher Referent am Orient-Institut Istanbul und ist Kooperationspartner im Forschungsfeld „Selbstzeugnisse als Quellen zur Geschichte des späten Osmanischen Reichs“.

Literatur:

Bartolʹd, Vasilij Vladimirovič: „Otčet o komandirovke v Turciju“, in: ders.: Sočinenija. Raboty po istočnikovedeniju, Bd. 8, Moskau: Nauka, 1973, S. 462-464.

Togan, Zeki Velidi: Hatıralar: Türkistan ve Diğer Müslüman Doğu Türklerinin Millî Varlık ve Kültür Mücadeleleri, Ankara: Türkiye Diyanet Vakfı Yayınları, 2015.

Citation: Gasimov, Zaur. “Auf den Spuren eines deutsch-russischen Orienthistorikers: Wilhelm Barthold in Istanbul,” Orient-Institut Istanbul Blog, 19 June 2020, https://www.oiist.org/auf-den-spuren-eines-deutsch-russischen-orienthistorikers-wilhelm-barthold-in-istanbul/

Keywords

Istanbul; Turkish Republic; Iran; Central Asia; Russia; USSR; 20th century; Turcology; Russo-Turkish relations; entangled history; cooperation; research project; OII-alumni; OII-History & Life Narratives