Traugott Fuchs am Orient-Institut Istanbul: Wohin soll die Reise gehen?

Der Kooperations-Workshop „Forschen im Archiv“ gibt erste Impulse

Autorin: Sarah El Sheimy

5. Januar 2024

 

Anlässlich der bevorstehenden Öffnung des Traugott Fuchs-Archivs hatte das Orient-Institut Ende November ganz besonderen Besuch: Von der Universität Heidelberg sind Sandra Schell und Jens Krumeich angereist und haben in einem Workshop am 21. November Einblicke in die Forschung mit Archiven gegeben. Teilgenommen haben Studierende und Dozentinnen der Abteilung für deutsche Sprache und Literatur der Universität Istanbul, Expert*innen, die im Rahmen ihrer Forschung selbst mit dem Traugott Fuchs-Archiv arbeiten und einige Mitarbeitende des Orient-Instituts.

Der Einzug des Traugott Fuchs-Archivs in die neuen Räumlichkeiten des Teutonia-Gebäudes ermöglicht Forschenden künftig den Zugang zum Nachlass eines Wissenschaftlers und Künstlers, der Nazi-Deutschland 1934 den Rücken kehrte, um 63 Jahre lang in Istanbul zu leben und zu arbeiten. Traugott Fuchs hat in seiner Zeit in der Türkei nicht nur die germanistische Abteilung der İstanbul Universitesi mitbegründet, wo er bis zur Rente deutsche Sprach- und Literaturgeschichte lehrte, sondern auch am Robert College, der heutigen Boğaziçi Üniversitesi, Französisch und Deutsch unterrichtet, gemalt und übersetzt.

In Fuchs’ Nachfolge steht die heutige Professorin an der germanistischen Abteilung der İstanbul Universitesi, Prof. Dr. Canan Şenöz Ayata. „Einige seiner Schüler waren Lehrer von mir“, erzählte sie in ihren einleitenden Worten zu Fuchs‘ Person und seiner Verbindung zur İstanbul Universitesi, mit denen sie den Workshop eröffnete. Der stellvertretende Direktor des Orient-Instituts, Dr. Richard Wittmann, dessen Initiative den Nachlass unter einem Dach zusammenführte, schloss sich ihr an. Er habe bereits als Austauschschüler in Istanbul zum ersten Mal von Traugott Fuchs gehört.

40 Jahre später hat Wittmann mit dem Regisseur Dirk Schäfer an einem Dokumentarfilm über den Wissenschaftler gearbeitet, dessen Trailer er am Workshoptag zum ersten Mal zeigte. Danach erzählte er den Teilnehmenden davon, wie die einzelnen Teile des Archivs ihren Weg in die hohen Regalwände im Erdgeschoss des Instituts gefunden haben. Von diesen konnte die Gruppe sich später bei der Besichtigung des Archivs selbst ein Bild machen. Besonders abenteuerlich war laut Wittmann die Rettung von Fuchs’ etwa 250 Gemälden. Sie waren Jahrzehnte in den feuchten Räumen eines baufälligen Istanbuler Holzhauses untergebracht, bis sie von dort auf Wittmanns Veranlassung hin regelrecht evakuiert wurden, um sie vor dem Verlust zu bewahren.

Einige dieser Gemälde sind in einer Zeit entstanden, in der Traugott Fuchs in der zentralanatolischen Stadt Çorum interniert war. Auf diese Phase machte im Workshop Julia Völker aufmerksam. Sie hat für ihre Promotion an der Universität Istanbul zu Traugott Fuchs’ Zeit im Exil geforscht und erwähnte insbesondere die existenziellen Krisen, die den Wissenschaftler in der Türkei ebenso begleiteten wie seine Erfolge. Dazu hätten nicht nur Einsamkeit, finanzielle Probleme und die Zerstörung seiner Doktorarbeit bei einem Hausbrand gehört. Auch die Politik des Deutschen Reiches hatte Auswirkungen auf Fuchs’ Leben in Istanbul: Als die Türkei sich im Zweiten Weltkrieg auf die Seite der Alliierten stellte, forderte die Regierung Staatsangehörige des Deutschen Reiches auf, das Land zu verlassen, und schickte sie bei Missachtung in die Internierung, die bisweilen bis 1946 andauerte.

Insbesondere diese Phase will das Orient-Institut in einer Ausstellung thematisieren, die für den Frühsommer 2024 geplant ist. Für deren Realisierung ist die Arbeit mit dem neuen Traugott Fuchs-Archiv essenziell. Daran heranzuführen, war das Anliegen von Jens Krumeich und Sandra Schell. Die beiden sind wissenschaftliche Mitarbeitende am germanistischen Seminar der Universität Heidelberg und übernahmen den zweiten Teil des Workshops. Sie sprachen über Grundsätzliches zu den Themen Archiv und Nachlass, inklusive rechtlicher Aspekte und des Bewusstseins um Lücken im Material. Beide gingen auch auf eigene praktische Erfahrungen ein.

Schell berichtete von der Archiverschließung des Dichtervereins „Hölderlin-Gesellschaft“ in Tübingen und konnte damit unter den Workshop-Teilnehmenden erste Fragen zur eben erworbenen Theorie hervorrufen: „Muss die Rechnung über einen Mitgliedsbeitrag von 30 D-Mark wirklich Teil eines Archivs werden?“, wunderte sich etwa eine Anwesende. Was zunächst einmal uninteressant wirke, könne bei der Forschung um Vereinsgeschichte aber relevant werden, erwiderte Schell und machte auch darauf aufmerksam, wie wichtig der interdisziplinäre Transfer von Wissen für die Forschung über und mit Archiven sei. Das zeigte wiederum Jens Krumeich am Beispiel der Kontinuität von Personen mit nationalsozialistischer Gesinnung innerhalb der Hölderlin-Gesellschaft. So machte er auch deutlich, wie das Eintauchen in Archive für Forschende zu detektivischem Arbeiten werden kann.

Das testeten die Anwesenden nach einer kurzen Kaffeepause mit Bienenstich und Brezeln aus einer deutschen Bäckerei in Istanbul direkt selbst aus. Die Gruppe teilte sich auf und setzte sich in der verbleibenden Zeit des Nachmittags mit Briefen und anderen Dokumenten aus dem Traugott Fuchs-Archiv auseinander. Dabei orientierten die Teilnehmenden sich an inhaltlichen und formalen Leitfragen, die sie später gemeinsam besprachen. Die Archiv- und Fuchs-Forschenden unterstützten sie mit Kontext und Expertise.

©Richard Wittmann

Der Austausch in der Gruppe schärfte gleichzeitig auch den Blick auf das Archiv selbst. So bleibt trotz Dokumentarfilm, Workshop und geplanter Ausstellung eine gewaltige Fülle an unerschlossenem Material, das einen sehr detailreichen Blick auf die vielen Facetten des außergewöhnlichen Wissenschaftlers zulässt. Die Fragen darum, wie diese Zeitdokumente gewichtet, weiter sortiert und zugänglich gemacht werden, nehmen die Forschenden mit in die Zukunft der vielen Briefe, Gemälde, Schallplatten und Co.

Sarah El Sheimy studiert Arabistik und Islamwissenschaft an der Universität Leipzig. Von September bis Dezember 2023 war sie wissenschaftliche Praktikantin am Orient-Institut Istanbul.

Citation: Sarah El Sheimy, Workshop “Traugott Fuchs am Orient-Institut Istanbul: Wohin soll die Reise gehen?”, Orient-Institut Istanbul Blog, 5 January 2024, https://www.oiist.org/traugott-fuchs-am-orient-institut-istanbul-wohin-soll-die-reise-gehen

Keywords

Turkey; Istanbul; 20st century; Traugott Fuchs ; German refugee scholars; archival research; OII-Traugott Fuchs Archive; workshop